Viele Frauen leiden darunter, dass sie zu wenig Zeit haben. Das hat erhebliche Konsequenzen, nicht nur für das Wohlbefinden. Stress kann viel Geld kosten – oder die Zukunft.

Zeitnot © Peter Atkins-fotolia.com

Letztens wollte Annette Beyer einen Flug ans Mittelmeer buchen, einmal Türkei und zurück. Früher bereitete ihr das keine Probleme, doch inzwischen ist das anders. Mühsam klickte sie sich durch die Internetseiten des Vergleichsportals und hatte am Ende das Gefühl, auf dem Weg zum Ziel nebenbei 95 Versicherungen abgeschlossen zu haben. Der Flug, der anfangs mit 100 Euro angeboten wurde, kostete am Ende mehr als 200 Euro. „Das ist nicht euer Ernst“, rief sie dabei empört aus, als hätte sie den Geschäftsführer des Vergleichsportals persönlich vor sich sitzen. Schon das hat ihr so viele Nerven geraubt, dass sie am Ende aufgab. Sie schloss alle Internetfenster und wechselte zur Lufthansa-Seite. Dort ging alles ganz schnell und unkompliziert. Ob der Flug teurer ist, war dann gar nicht mehr wichtig.

Reizüberflutung im Internet

Dabei ist Annette Beyer mit ihren 56 Jahren kein bekennender Technikgegner. Sie kennt das Internet mit seinen vielen Vorteilen und weiß, dass es letztlich nicht mehr ohne geht. Sie habe immer fleißig geübt, beteuert sie, trotzdem ist die Reizüberflutung für sie eine Last. Die setzt Annette Beyer unter Zeitdruck. Vier Fenster auf einmal geöffnet zu haben, nur um zu gucken, wo das günstigste Angebot ist – dafür hat sie keine Geduld mehr.

Dieses Gefühl, im Großen wie im Kleinen, kennen viele: dass etwas gehörig schiefgeht, nur weil man keine Zeit hat, sich durch einen Wust an Informationen durchzuwühlen. Jedenfalls hat man den Eindruck, dass es so sein könnte, und das ist schlimm genug. Leistet man sich einmal in zwanzig Jahren eine neue Küche, fürchtet man doch insgeheim, dass man nicht genügend Preise verglichen und Angebote eingeholt hat, um das beste Preis-Leistungs-Verhältnis zu ergattern.

Zeit ist Geld

Zeit ist Geld

So ist sie, die Marktwirtschaft: hält für jeden ein gutes Angebot bereit, aber vor allen Dingen für diejenigen, die sich auskennen. „Zeit ist Geld“ ist eine Redewendung mit einem erstaunlich hohen Wahrheitsgehalt. Je mehr Zeit man hat, desto besser kann man sein Geld mehren. Erst informieren, dann investieren, das ist die beste Anlagestrategie.

Auch Annette Beyer weiß das, und sie ärgert sich darüber. Denn Zeit ist für sie knapp, und eigentlich

  • möchte sie nicht ein Ingenieursstudium absolvieren, bevor sie sich ein neues Handy kauft, oder
  • Informatikkurse besuchen, nur um im Internet einen günstigen Flug in die Türkei zu buchen.
  • Und sie will keinen Business-Abschluss machen, nur um ihr Geld vernünftig anzulegen. Gerade dort hatte sie schon häufig das Gefühl, Geld verloren zu haben, weil ihr die Zeit fehlte, sich ausreichend zu informieren.

Zeitdruck wird zur Falle

Diese Ahnung, dass wir unter Zeitdruck Entscheidungen treffen, die uns nicht gut bekommen, ist durchaus richtig. Inzwischen ist es Gegenstand eines ganzen Forschungsfeldes, vornehmlich von Soziologen und Verhaltensökonomen. Deshalb wissen wir: Zeitdruck kann bei schwierigen, vor allem emotionalen Fragen helfen. Aber ansonsten ist er kein sinnvoller Ratgeber, denn häufig folgen wir dann intuitiven, gewissermaßen automatisierten Entscheidungsmustern.

Das lässt sich an einem einfachen Beispiel sehen: Werden Leute in Stresssituationen gefragt, ob sie Lotto spielen würden, sagen sie sofort Ja.

  • Denn das Erste, was wir simplen Wesen in solchen Momenten wahrnehmen, sind die Millionen, die es zu gewinnen gibt – und die kann man sich doch nicht entgehen lassen!
  • Die zweite Information – nämlich, dass sich diese Gewinne höchstwahrscheinlich gar nicht realisieren werden – geht im Zeitdruck völlig unter.

Das ist im Supermarkt übrigens nicht anders. Hetzen wir kurz nach Feierabend noch schnell durch den Laden, verlassen wir uns auf starke Signale, auf jeden „Preisknüller“ und „Sonderaktionen“, die sich uns in den Weg stellen. Denn da ahnen wir: Das muss sich doch lohnen.

Auf der Jagd durch den Supermarkt

Dabei ist dieses Verhalten gar nicht so dumm, wie es klingt. Denn unter Zeitdruck schaltet unser Gehirn in einen Modus, der noch aus der evolutionären Frühzeit des Menschen stammt: Um das eigene Überleben zu sichern, kommt es vor allem darauf an, sich möglichst keinem unnötigen Risiko auszusetzen – unter mehreren Möglichkeiten wählten unsere Vorfahren darum stets die Variante aus, die am sichersten schien.

Dies ist bei unserer Jagd durch den Supermarkt genauso: Wir hangeln uns von Preisknüller zu Preisknüller und glauben, damit alles richtig zu machen. Nur stimmt das eben nicht immer. Denn das wissen natürlich auch die Händler: Selten ist ein Sonderangebot auch das günstigste Produkt. Die Entscheidung unter Zeitdruck kann also in diesem Fall für uns viel teurer sein als gedacht.

Keine Zeit, keine Zukunft

Ihr wisst nicht, wann der Herr kommen wird.

Das ist zwar ärgerlich, aber reichlich harmlos. Ernst wird es jedoch, wenn Zeitnot richtig Geld kostet. Oder die Zukunft. Für viele Menschen unterhalb der Armutsgrenze ist das bittere Realität. Bei ihnen sorgt die Zeitarmut dafür, dass sie von dem wenigen noch weniger haben. Warum? Weil sie nur im Hier und Jetzt leben und sich keine Gedanken um die Zukunft machen können.

Wer sich Sorgen machen muss, wie das Essen auf den Tisch kommt, kann nicht für das Alter vorsorgen oder für die Ausbildung der Kinder. Die Anforderungen von heute sind drängender als die von morgen. Je grobmaschiger das soziale Netz ist, das diese Menschen auffängt, desto schwieriger wird es.

Experimente zeigen verheerendes Ergebnis

Das lässt sich in den Vereinigten Staaten beobachten, traditionell ein Land mit wenig Schutz vor Arbeitslosigkeit und nur geringer Sozialhilfe. Forscher an der amerikanischen Princeton-Universität haben 2012 eine Studie durchgeführt, die bei der Armut den Faktor Zeit ins Visier nahm.  Sie spielten amerikanische Spielshows nach, in denen Teams bestimmte Fragen beantworten mussten. Dabei brachten sie verschiedene Variationen ins Spiel, eine davon war Zeitnot.

Das eine Team bekam schlicht weniger Zeit, um sich die Antworten zu überlegen. Der Stress steigerte sich derart, dass die Teammitglieder wesentlich schlechter abschnitten als die andere Mannschaft. Ja, sie bekamen nicht einmal mit, wenn ihnen geholfen wurde! Zwischendrin wurde ihnen eine Vorschau auf das Thema der nächsten Runde gegeben, damit sie sich darauf vorbereiten konnten. Sie ignorierten die Information einfach, weil sie so sehr unter Stress litten, dass sie sich keine Strategie dagegen überlegen konnten, selbst wenn sich die Gelegenheit dazu bot.

Zeitnot ist die neue Armut

Die Ergebnisse dieser und auch anderer Studien sind ernüchternd – und trotzdem ist Zeitnot noch immer einer der wenig beachteten Aspekte von Armut. Einer, der sich schon seit langem der Zeitarmut widmet, ist Joachim Merz, Ökonom an der Leuphana-Universität in Lüneburg. Für ihn ist dieser Aspekt sogar so wichtig, dass er den Begriff von Armut neu fassen möchte. Nicht nur finanzielle Aspekte sollten dabei eine Rolle spielen, sondern auch die Frage, wie viel Zeit jemand zur Verfügung hat. Er findet: Zeitnot ist die neue Armut. „Zu wenig Zeit zu haben beeinträchtigt die Lebenszufriedenheit ganz ähnlich wie zu wenig Geld zu haben“, sagt er. Denn jeder, der am sozialen Leben teilhaben will, braucht dazu Zeit.

Der Armutsbegriff muss sich ändern

Armut

Will man also beurteilen, ob jemand arm ist oder nicht, darf man Merz und seinen Kollegen zufolge nicht nur auf das Einkommen schauen, sondern auch auf die freie Zeit. Daraus ergibt sich also ein „multidimensionaler Armutsbegriff“. Wie der sich berechnet?

Derzeit gilt jeder als arm, dessen Nettoeinkommen 60 Prozent unterhalb des mittleren Einkommens der Bevölkerung liegt. Merz geht bei seinem Begriff zur Zeitarmut ähnlich vor. Seiner Ansicht nach ist sie dann gegeben, wenn die verbleibende persönliche freie Zeit unterhalb eines bestimmten Levels liegt und keine oder nur sehr limitierte Zeit übrig bleibt für das, was Soziologen „soziale Teilhabe“ nennen. Also in den Park gehen und ein Bier trinken, wenn die Freunde dies tun. Oder mit der Freundin ins Kino.

Geht man davon aus, dass der normale Bürger am Tag etwas mehr als fünf Stunden zur freien Verfügung hat, liegt die Zeitarmutsgrenze für Merz und seine Kollegen daher bei gut drei Stunden Zeit, die jeder frei verfügbar haben sollte. Alles, was darunterliegt, macht einen erheblichen Unterschied.

Merz kommt in seinen Untersuchungen zu einem krassen Befund: Legt man seinen multidimensionalen Armutsbegriff zugrunde, ist die Armut in Deutschland fast doppelt so hoch wie nach der einkommensfixierten Sichtweise: Rund 12,3 Prozent der Deutschen müssten demnach als arm gelten. Dabei wird nicht einfach nur Armut plus Armut gerechnet, in dem von Merz zugrunde gelegten Modell kann die freie Zeit durchaus Defizite im Einkommen ausgleichen. Deshalb rutschen einige Personen aus der Armutszone, obwohl sie nicht viel verdienen – nur dadurch, dass sie mehr freie Zeit haben.

Fast jeder dritte Selbstständige ist arm

Besonders anfällig für Zeitknappheit sind naturgemäß Alleinerziehende, Paare mit mehr als drei Kindern, aber auch Selbstständige, von denen es immer etwas verklärend heißt, sie könnten sich ihre Zeit so schön frei einteilen. Das mag sein. Nur dass sie davon eben weniger haben als ein Angestellter mit tariflich vereinbarter Arbeitszeit. Fast jeder dritte Selbstständige ist in den Augen von Merz und seinen Kollegen arm.

Der Forscher fordert deshalb fundamentale Konsequenzen: Politik, die darauf zielt, Armut zu reduzieren, muss auch den Zeitaspekt im Auge behalten, sonst würde eine wichtige Dimension unter den Tisch fallen.

Arbeits- und Nichtarbeitszeit sollten effizienter synchronisiert werden:

  • durch flexible Arbeitszeiten,
  • einen guten öffentlichen Nahverkehr, der das Pendeln erleichtert, und
  • längere Öffnungszeiten in Kindergärten und Schulen.

Damit nicht jeder von A nach B hetzt, um sein tägliches Soll zu erfüllen.

Wer es sich leisten kann, versucht Pflichten auszulagern, wo er nur kann. Für das lästige Aufräumen hat sich längst eine Putzfrau etabliert, nicht nur wie früher bei den Wohlhabenden, sondern bei allen, die es sich leisten können. Mit dem „bisschen Haushalt“, wie es in den siebziger Jahren so launig hieß, möchte sich niemand belasten, der nach einem Acht-Stunden-Arbeitstag nach Hause kommt, jedenfalls nicht länger als unbedingt nötig.

Frauen ertrinken in unbezahlter Arbeit

Frau Afrika © cronopio-fotolia.com

Wenn es eine Frau gibt, die sich jede Dienstleistung dieser Welt kaufen könnte, dann ist das Melinda Gates, Ehefrau von Microsoft-Gründer Bill Gates. Er ist mit einem geschätzten Vermögen von knapp 79 Milliarden Dollar einer der reichsten Männer der Welt. Mit ihrem Geld stellen die beiden viel Sinnvolles an, ihre gemeinsame Stiftung investiert riesige Summen in Afrika, um das Elend durch Krankheiten und Hunger zu lindern. Und selbst dort gilt: Nicht nur Geld ist das Problem, sondern Zeit.

Melinda Gates erzählt dazu die Geschichte von Anna und Sapare, einem Paar und seinen sechs Kindern in Tansania, mit denen sie einige Tage verbracht hat. Und diese Tage sahen so ganz anders aus als ein Tag, den eine der reichsten Frauen der Welt verbringen würde. Gemeinsam mit Anna stand sie um 5 Uhr morgens auf, um das Feuer anzumachen und Frühstück zu bereiten. Danach räumten sie auf und gingen Wasser holen, kilometerweit. Annas Eimer wog rund 20 Kilo, sie trug ihn auf dem Kopf.

Als sie von ihrem strammen Fußmarsch zurückkehrten, war Melinda Gates erschöpft, obwohl sie weniger zu tragen hatte. Doch an eine Pause war nicht zu denken, denn jetzt ging es daran, Mittagessen zu machen. Danach gingen sie in den Wald, um Holz für das Feuer am nächsten Tag zu holen. Sie holten mehr Wasser, dann molken sie die Ziegen, dann kam das Abendessen dran. Alles wieder aufzuräumen dauerte bis in die Nacht. Den Abwasch erledigten sie im Mondlicht. Erst nach 10 Uhr abends waren sie fertig.

Ein ganzer Tag ging dahin – mit komplett unbezahlter Arbeit.

Ökonomischer Wahnsinn

Denn während sie ihre Zeit mit täglich wiederkehrenden Pflichten verplempern, könnten sie diese viel sinnvoller nutzen: zum Beispiel sich weiterbilden oder wenigstens die Kinder. Sie könnten Körbe flechten und verkaufen. „Es geht nicht nur um Fairness“, sagt Melinda Gates. „Frauen mit der unbezahlten Arbeit zu überfrachten geht zulasten von allen.“ Es bremst die Familien und die Gesellschaft. Nirgendwo ist das so deutlich wie in den ärmsten Regionen dieser Welt.

Auch im reichen Westen hindert die Zeitnot jeden Tag Familien daran, aus ihrem Leben etwas zu machen. Annette Beyer bekommt ihre Zeitarmut gut in den Griff, weil sie sich inzwischen arrangiert hat und viele Menschen kennt, die ihr unter die Arme greifen. Es hilft ihr allerdings auch, dass sie genug Geld hat, um nicht wirklich arm zu sein.

Eine echte Last wird das Leben allerdings, wenn sowohl Zeit als auch das Geld fehlt. Dann ist an eine glückliche Zukunft gar nicht zu denken.

Über die Autoren

Corinna Budras, geb. 1976, hat Jura studiert und nach ihrem Staatsexamen eine Ausbildung an der Berliner Journalisten-Schule absolviert. Seit 2005 ist sie Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, zuerst im Wirtschaftsressort, seit April 2014 bei der Sonntagszeitung. 2015 betreute sie eine Serie über die Rastlosigkeit unserer Zeit mit dem Titel „Atemlos – wie wir Zeit gewinnen“.

Pascal Fischer, geb. 1975, hat Germanistik und Philosophie studiert und beim Deutschlandradio volontiert. Von 2008 bis 2009 war er freier Kulturkorrespondent in New York. Als freier Hörfunkjournalist erstellt er Reportagen, Features, Literatur- und Sachbuchkritiken für die Programme des Deutschlandradios und die ARD-Kulturwellen.

Kontakt

e-mail: cbudras@hotmail.com

Buchvorstellung der Redaktion

Wer hat an der Uhr gedreht?

Warum uns die Zeit abhandenkommt und wie wir sie zurückgewinnen

In meinem Bekanntenkreis höre ich täglich dieselbe Klage: „Je älter ich werde, desto weniger Zeit habe ich“. Oder „Ich weiß gar nicht, wie ich früher neben meiner Arbeit noch meinen Haushalt schaffen konnte“. Und auch den Jüngeren fehlt täglich Zeit: „Ach, wenn mein Tag doch 30 Stunden hätte“. Was ist mit uns Menschen los?

In ihrem Buch „Wer hat an der Uhr gedreht“ gehen die beiden Autoren Corinna Budras und Pascal Fischer in zwölf Kapiteln den gefühlten und experimentell nachgewiesenen Zeitmustern nach. Wir erfahren, dass es tatsächlich in unserem Gehirn ein „Zeitzentrum“ gibt. Was passiert in uns, wenn sich die Zeit endlos dehnt oder wenn sie wie im Flug vergeht? Unter welchen Umständen verändert sich unser Zeitgefühl im Leben? Wie entsteht Stress, und warum ist ein Tag voller Arbeit allein noch lange kein Untergang?

Diesen und vielen anderen Fragen gehen die Autoren präzise und unterhaltsam nach. Wenn man einmal weiß, warum und wie sich unser Zeitempfinden ändert, ist es einfacher, Mittel und Wege zu finden, wieder aus dem Zeit-Hamsterrad herauszukommen. Zahlreiche Vorschläge werden es dem Leser erleichtern, seinen eigenen Weg für den konstruktiven Umgang mit dem ständigen Zeitmangel zu finden. Ein wichtiges und sehr empfehlenswertes Buch für alle, die weg vom Multitasking hin zum achtsamen Zeitmanagement wollen.

Und was hilft Ihnen beim Zeitmanagement? Dann schreiben Sie doch einen Kommentar!

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