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Onlinesein oder Nichtsein? Plädoyer für vermehrte Offline-Existenz

In einigen Jahren soll Experten zufolge das Offline-Sein zum Luxus werden: Darf sich das Netz zur Totalität für die Gesellschaft und das eigene Leben entwickeln?

Young couple with smartphones in their bed

Junges Paar mit Smartphones © Ana Blazic Pavlovic – Fotolia.com

Ohne Internet geht schon heute vieles gar nicht mehr. Im Gegenteil: Das von Industrie und Wirtschaft angepeilte „Internet der Dinge“ soll unseren gesamten Lebenszusammenhang digital einholen. Die Bundesregierung forciert die „Digitale Agenda“. Um der Chancen willen werden Risiken immer bereitwilliger in Kauf genommen. Die angestrebte Technokratie bedeutet den zunehmenden Abbau der Privatsphäre; Datenschutz und Strahlenschutz erodieren immer mehr.

Gesellschaft am Scheideweg

Diese problematische Entwicklung ruft auch Kritiker auf den Plan. Bücher wie „Digitale Demenz“, „Die digitalisierte Freiheit“ oder „Die smarte Diktatur“ sprechen Dinge aus, die nicht auf der Linie des angeblichen Fortschritts liegen. Da erscheint Fortschritt in Wahrheit als Rückschritt – nämlich unter ethischen und humanistischen Aspekten. Das merken immer mehr Menschen. Sie wachen auf – und schalten beispielsweise ihr Smartphone bewusst seltener ein, um einer drohenden Sucht entgegenzutreten.

Internet muss sein, darf aber nicht zur Totalität für die Gesellschaft und für das eigene Leben werden. Technik bleibt human, wenn sie dem Menschen dient, wird aber inhuman, wenn sie sich den Menschen schlau („smart“!) unterwirft. Unsere Gesellschaft steht heute am Scheideweg, und in mancher Hinsicht hat sie schon nicht mehr die Wahl (bald z.B. bei der Frage des Einbaus digitaler Stromzähler[1], beim Ausbau des smart traffic usw.).

Sprachlügen

Es besteht ein Sog, online sein zu müssen, um am Leben teilzuhaben. Allein die Formulierung ist verräterisch: Ist jemand online, also irgendwie live ans Internet angebunden, dann gilt er gleichsam als „angeschaltet“ – und auf Linie, linienförmig dem „Schwarm des Digitalen“[2] an- und eingepasst, mitten im modernsten Leben. Fristet dagegen, wer offline ist, ein „ausgeschaltetes“ Dasein, gewissermaßen im Abseits des Lebens?

Handelt es sich hier nicht um ein Beispiel für „Sprachlügen“[3]? Zwar mag eine Mehrheit in unserem ach so fortschrittlichen Land im Sinne dieses „Neusprech“ denken. Doch ein nicht zu knapper Teil der Bevölkerung – schätzungsweise ein gutes Viertel – sieht die Dinge kritisch bzw. aus Distanz. Nicht um totale Internetverweigerung muss es sich da handeln; wohl aber geht es um gravierende Vorbehalte und praktischen Minimalismus, weil die Ambivalenzen der „digitalen Revolution“ immer deutlicher zu Tage treten.

Sicherheit und gesundheitliche Verträglichkeit

So halten sehr viele Menschen ihre persönlichen Daten im Internet für unsicher[4]. Man weiß um die wachsende Cyber-Kriminalität, um zunehmende Erpressung und Sabotage im Internet[5]. Man weiß um verbreitetes Cyber-Mobbing sowie um systematische Datenausspähung[6]. Vielleicht ein Drittel der Bevölkerung erblickt in der smarten Entwicklung mehr Risiken als Chancen.

Pretty kid playing game smartphone indoor

Kind mit Smartphone © ldprod – Fotolia.com

Hinter skeptischen Haltungen stehen meist einschlägige Erfahrungen, die Anlass zur Sorge um die eigene Freiheit und das persönliche Wohlbefinden geben. So betonen Marcel Rosenbach und Holger Stark: „Dass die ›soziale‹, vernetzte Online-Welt ihre Tücken hat, ist dabei längst kein Geheimnis mehr. Selbst Schulkinder lernen heute bereits, dass es die vielen bunten Apps und Dienste nicht umsonst gibt. Das Bonmot, dass die Nutzer bei den vermeintlichen Gratisangeboten im Netz nicht die Kunden sind, sondern das Produkt, hat sich herumgesprochen.“[7]

Im Übrigen geht es keineswegs nur um den umstrittenen Schutz der persönlichen Daten und der Privatsphäre. Der Geobiologe Dieter Kugler beispielsweise, der schon unzählige Schlafplätze auf Elektrosmog hin untersucht hat, ist zu dem Entschluss gekommen, seine Bahncard abzugeben und nicht mehr mit dem ICE zu fahren: „Früher gab es in Zügen Raucher- und Nichtraucherabteile, heute gibt es nur noch Abteile mit WLAN. Internet und E-Mails sind klasse, aber ich möchte entscheiden, wann ich online bin.“[8]

Und das umso mehr, als es deutlich warnende Studien im Blick auf die gesundheitliche Verträglichkeit von WLAN gibt. Allenthalben von der Strahlung des Kommunikations- und Mobilfunks umgeben zu sein, ist deshalb nicht jedermanns Sache[9]. Dabei macht Funk-Technologie ständiges Online-Sein eigentlich erst möglich, und tatsächlich nutzt eine breite Mehrheit der „Onliner“ mobiles Internet.

Rationale kulturpessimistische Perspektiven

In den letzten Jahren sind hierzulande etliche Bücher erschienen, die der fortschreitenden digitalen Revolution Skepsis entgegenbringen. Ich verweise neben meinen beiden Bänden „Die digitalisierte Freiheit“ (2014)(2) und „Digitaler Turmbau zu Babel“ (2015) auf so einschlägige Titel wie die von Evgeny Morozov („Smarte neue Welt“, 2013), Glenn Greenwald („Die globale Überwachung“, 2013), Stefan Aust/Thomas Ammann („Digitale Diktatur“, 2014) und Harald Welzer („Die smarte Diktatur“, 2016). Bei den genannten Autoren handelt es sich zum Teil um Internet-Experten, ansonsten um Journalisten, Philosophen, Soziologen, Theologen. Ihre kulturpessimistischen Perspektiven sind keineswegs irrationaler Natur, sondern beruhen auf sachkundigen Analysen und Prognosen.

Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Befürworter der digitalen Revolution derzeit marktpolitisch das Sagen haben und sich auf Mehrheiten in der Bevölkerung stützen. Die Weiterentwicklung digitaler Technologien lockt die Massen unentwegt. Namentlich das Internet of Me, also das auf die Wünsche des Individuums zugeschnittene Netz wird zum Hit. Im Übrigen bringen die sogenannten Sozialen Netzwerke mit ihrer Dynamik einen anhaltenden Sog ins „Online-Sein“ mit sich[10]. Es sieht ganz danach aus, dass sie heutzutage von allen Weisen, online zu sein, die meiste Zeit fressen[11].

Trend zur Entschleunigung versus…

Indessen zeichnet sich ein gegenläufiger Trend ab. Davon spricht einer der namhaftesten Trendforscher Europas, Matthias Horx. Der Publizist warnt vor den Schattenseiten der digitalen Welt: Immer online zu sein, sei keineswegs ratsam! Zudem werde Mediensucht in wenigen Jahren „so sanktioniert sein wie das Rauchen“[12]. Und weiter: „Das Sich-Überschlagen der digitalen Welle findet jetzt statt. Das haben wir Zukunftsforscher schon vor Jahren erkannt. Wir realisieren allmählich, dass wir in einer Kultur der Störung leben, in der wir zunehmend abgelenkt, unkonzentriert, fahrig und nervös, ja geradezu asozial werden.“ Horx ist überzeugt, binnen weniger Jahre werde das Suchtverhalten bei elektronischen Medien sehr kritisch beäugt werden: „Man wird dann als ungebildet und charakterschwach gelten, wenn man auf sein Smartphone starrt. Und an vielen Orten wird die Nutzung elektronischer Geräte verboten sein.

…Digital evoziertes Suchtverhalten

Einstweilen aber spitzt sich das digital evozierte Suchtverhalten noch zu. In einem Focus-Artikel unter der Überschrift „Die digitalen Verführer“ heißt es: „Smartphones sind faszinierende Begleiter mit hohem Suchtpotenzial. Forscher erkennen die wachsende Handy-Abhängigkeit als gesellschaftliches Problem. Sie fürchten: Wer die Welt nur via Display wahrnimmt, verpasst die Realität.“[13]

Für viele ist das Online-Sein zur „Weide“ des Lebens geworden. Digital zu ticken, bedeutet offenbar für immer mehr Zeitgenossen die Eigentlichkeit des Existierens. Jede Form von Entzug würde als Strafe oder als Minderung der Lebensqualität empfunden. Das gilt insbesondere für junge Mitmenschen[14]. Aber auch immer weniger Senioren können sich ein Leben ohne Internet vorstellen[15]. Die Frage ist, ob und wann dieses Empfinden mehrheitlich kippt. Zumal wenn sich zunehmend Big Data auswirkt, dürfte sich keineswegs nur Begeisterung einstellen, denn „es gibt auch Menschen, denen Big-Data-Anwendungen das Leben schwerer machen.“[16]

Evangelische Kirche hat teuflischen Plan

Funkturm auf Kirchturm

Funkturm auf Kirchturm © wosczynamathias – Fotolia.com

Umso verwunderlicher ist, wenn Kirchen diesen Trend noch fördern. Mich als Pfarrer befremdet, was sich neuerdings in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz (EKBO) abspielt: Unter dem zweifelhaften Namen „Godspot“ wird dort freies WLAN kostenlos an immer mehr Kirchen angeboten. Erklärtes Ziel ist es, allen 3000 Kirchen und kirchlichen Gebäuden in der EKBO solch „göttliche“ Hochfrequenz-Spots zur Verfügung zu stellen[17].

Die evangelische Kirche hat einen teuflischen Plan, um Besucher anzulocken“, kommentiert Frieda Kammerer auf dem Jugendportal bento. Sollten Kirchen nicht Orte der Stille und Einkehr sein, auch der Abkehr vom Internet? Die Digitalisierung der Gesellschaft erhöht die Sehnsucht nach der analogen Welt[18]; dieser Sehnsucht sollten Kirchen mit ihrer Botschaft von Schöpfung und Erlösung entsprechen.

Zwang zum Online-Sein?

Der gesamtgesellschaftliche Druck zur Beschleunigung lässt offenkundig die eigene Identität nicht untangiert: „Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange?“ So lautet ein erfolgreicher Buchtitel des amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Nicholas Carr[19]. Wie der Ulmer Hirnforscher Manfred Spitzer auf dem Hintergrund zahlreicher Studien resümiert, haben digitale Medien ein hohes Suchtpotenzial und schaden langfristig: „Ein Teuelskreis aus Kontrollverlust, fortschreitendem geistigem und körperlichem Verfall, sozialem Abstieg, Vereinsamung, Stress und Depressionen setzt ein; er schränkt die Lebensqualität ein und führt zu einem um einige Jahre früheren Tod.“[20] Häufiges Online-Sein ist folglich keineswegs empfehlenswert.

Und das dürfte nicht nur für Individuen gelten, sondern für ganze Strukturbereiche. Zwar geht der Trend derzeit eindeutig und kräftig zu immer mehr Vernetzung der Infrastruktur. Doch angesichts der nach wie vor virulenten Hacker-Problematik ist das eine hoch riskante Entwicklung.

Nicht ohne Grund haben beispielsweise die Journalisten Thomas Fischermann und Götz Hamann in ihrem Buch „Zeitbombe Internet“ gefordert, das Stromnetz keinesfalls per Internet zu betreiben: „Solche kritischen Infrastrukturen, die wir für unseren Alltag dringend brauchen… – sie müssen unwiderruflich vom Netz.“[21] Aber die Politik hört nicht hin und beschließt 2016 das Gesetz zur „Digitalisierung der Energiewende“.

Schlaf der Vernunft

Schlafende frau

Schlafende Frau

Der Schriftsteller und Lyriker Hans Magnus Enzensberger hat in der F.A.Z. einen digitalisierungskritischen Appell unter der Überschrift „Wehrt euch!“ veröffentlicht. Hinsichtlich des Erfolgs blieb er allerdings selber skeptisch und prophezeite, der „Schlaf der Vernunft“ werde bis zu dem Tag anhalten, an dem „eine Mehrheit der Einwohner unseres Landes am eigenen Leib erfährt, was ihnen widerfahren ist. Vielleicht werden sie sich dann die Augen reiben und fragen, warum sie die Zeit, zu der Gegenwehr noch möglich gewesen wäre, verschlafen haben.“[22] Wo bleibt im Digital New Age[23] das verbreitete kritische Bewusstsein, dass das eigentliche Sein nach wie vor im geschöpflichen Offline-Sein besteht? Dass die „Kohlenstoffwelt“, wie die nicht-virtuelle Wirklichkeit gern etwas zweideutig von Digital Natives genannt wird, eben doch unser Leben und auch unser Sterben maßgeblich bestimmt?

Wo das wahre Sein stattfindet

Gewiss, die Digitalisierungsfanatiker sind sogar der Meinung, dass man technologisch in den Jahrzehnten auch noch die Unsterblichkeit herstellen könne. Indessen bleibt es bei dem Wort Jesu: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ (Matth 16,26). Würden doch noch die allerbesten Maschinen auf die Dauer selbst der Vergänglichkeit anheimfallen, wie das schließlich auch unserem Sonnensystem, ja unserer Galaxie und wohl sogar dem gesamten Universum droht! Wer das wahre Sein finden möchte, der darf es nicht im Online-Sein suchen.

Die Anmerkungen zu denFußnoten können Sie hier als pdf herunterladen.

Über den Autor

Werner ThiedeProf. Dr. Werner Thiede ist evangelischer Pfarrer, Publizist und außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er hat viele Bücher, Artikel und Aufsätze geschrieben, von denen einige auch in andere Sprachen übersetzt wurden. Seine Veranstaltungen an der Universität in Erlangen umfassen Vorlesungen und Seminare zu Themen der Dogmatik, Ethik sowie der Konfessions- und Sektenkunde.

Homepage: www.werner-thiede.de

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Thiede digitaler TurmbauNach seinen Büchern „Mythos Mobilfunk“ und „Die digitalisierte Freiheit“ hat der Theologe und Publizist Werner Thiede mit dem „Digitalen Turmbau zu Babel“ erneut den Finger in unsere „Digitalisierungswunde“ gelegt.

Nicht nur die Jugend, sondern zunehmend auch die ältere Generation ist fasziniert von den Möglichkeiten und Herausforderungen der digitalen Welt. Als Umweltärztin habe ich in diesem Magazin schon mehrfach auf die gesundheitlichen Risiken des Mobilfunks hingewiesen. Aber da die elektromagnetischen Wellen unsichtbar sind (bei der Zigarette sieht man wenigstens den Rauch), werden diese Risiken gar nicht erst zur Kenntnis genommen. Zu lange dauert es, bis ein Gehirntumor entsteht, und zu vielfältig sind die Verhaltensstörungen und kindlichen Fehlentwicklungen, um sie eindeutig dem Gebrauch von Handys und Funkstrahlung anlasten zu können.

In seinem Buch „Digitaler Turmbau zu Babel“ beschreibt Thiede noch weitere Risiken: die Sucht, die totale Abhängigkeit, die kulturellen Veränderungen, das grenzenlose Ausgeliefertsein des einzelnen. Treuherzig geben wir unsere Daten preis, lassen unsere Wohnung digitalisieren, lassen uns überwachen, lassen uns über das Internet mobben, verlieren in Internetforen jegliche Zurückhaltung usw. Die Werte des Christentums, wie Liebe, Hilfe für den Schwächeren, Harmonie werden preisgegeben für Hektik, Profit, Selbstdarstellung und Machtstreben. In den 95 Thesen am Ende des Buches sind alle Bedenken und Ratschläge zusammengefasst.

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