Die moderne Liebe ist eine emotional/leidenschaftliche Beziehung, die aus einer Kette von Begegnungen mit großer Lebendigkeit, hoher Intensität und großer persönlicher Gestaltungsfreiheit für beide Partner besteht.

Scheidung © Prazis-fotolia

In den vergangenen Jahrzehnten haben in den Industrienationen umwälzende technische und gesellschaftliche Entwicklungen stattgefunden. Durch die zunehmende Gleichberechtigung der Geschlechter, die verbesserte Ausbildung von Mädchen und Frauen, deren Karrierechancen und Unabhängigkeitsbestrebungen, haben sich auch die Wünsche an eine Paarbeziehung grundlegend geändert.

Während noch in den 50er Jahren etwa 10% der Eheschließungen durch eine Scheidung beendet wurden, waren es in den vergangenen fünf Jahren fast 50%. Jede vierte Ehe wurde zwischen dem 6. und. 10. Ehejahr geschieden. Beachtlich ist jedoch, dass inzwischen auch noch nach mehr als 25 Ehejahren 15% der Paare ihre Beziehung aufgeben (zum großen Teil auf Druck der Ehefrauen). Und nur die Hälfte von ihnen geht eine neue Ehe ein. Die Zahl der Single-Haushalte ist auf 20-30% angestiegen, häufiger in der Stadt als auf dem Land.

Will man den eigentlichen Ursachen für diese Zahlen auf den Grund gehen, so muss man sich die Frage stellen, was in unseren Paarbeziehungen schief oder zumindest anders als früher läuft. In seinem Buch „Liebe will riskiert werden: Warum Paare heute anders lieben und wie sie damit glücklich werdenLiebe will riskiert werden“ stellt der bekannte Paarberater und Coach Michael Mary seine Erfahrungen dar. Für das Netzwerk Frauengesundheit hat der Autor seine Thesen zur Paarbeziehung zusammengefasst.

Warum Paare heute anders lieben und wie sie damit glücklich werden

Thesen des Autors Michael Mary

In Bezug auf Paarbeziehungen herrscht allgemein eine ziemliche Konfusion. Das zeigt sich beispielsweise in Fragen, die seit Jahren diskutiert werden und die mir auch von Journalisten immer wieder gestellt werden.

  • „Braucht die Liebe Fremdheit oder Gleichheit?“
  • „Wie viel Abstand braucht die Liebe?“
  • „Wie wichtig ist Sex in einer Beziehung?“
  • „Welche Rolle spielt die Kommunikation?“
  • „Was machen glückliche Paare richtig?“
  • „Was sind die Spielregeln der Liebe?“ … und so weiter und so fort.

So einfach ist die Sache nicht. Denn heutzutage vermischen sich drei verschiedene Motive innerhalb einer Paarbeziehung, von denen jedes einen anderen Zweck verfolgt und eine eigene Bindungsform schafft. Und bei jeder Bindungsform kommt es auf ein unterschiedliches Verhalten an.

Die drei Motive einer Paarbeziehung

Die partnerschaftliche Bindung

Die partnerschaftliche Bindung dient der Lebensbewältigung. Die Partner führen miteinander ein Projekt durch, das sie alleine nicht durchführen können. Die Familie stellt das wichtigste solcher Projekte dar. Vorstellbar sind auch berufliche oder soziale Projekte. Oder es handelt sich um die Alltagsbewältigung, darum, nicht allein zu leben oder sich gegenseitig materiell zu stützen.

In dieser Bindungsform teilt man sich Aufgaben, verhandelt Rechte und Pflichten und zeigt sich als verlässlicher und berechenbarer Partner.

Die freundschaftliche Bindung

Die freundschaftliche Bindung dient der persönlichen Entwicklung. Die Partner teilen Ansichten, tauschen sich geistig aus und regen sich gegenseitig an. Sie teilen Interessen miteinander, beispielsweise Hobbys, unternehmen Reisen oder begeistern sich an kulturellen Aktivitäten.

In dieser Bindungsform tut man sich gegenseitig gut, hilft sich bei der Entfaltung persönlicher Eigenarten und lässt sich dennoch große Freiheiten.

Die emotional/leidenschaftliche Bindung

Liebespaar © drubig-photo-fotolia

Die emotional/leidenschaftliche Bindung dient der Bekräftigung und Erhaltung des Selbst. Sie zielt auf den Kern der Persönlichkeit. In ihr muss der Eindruck der Ganzliebe hervorgerufen werden, der die Vereinzelten mit Bedeutung für die Aspekte ihrer Person versorgt, auf die in keiner anderen sozialen Beziehung eingegangen wird. Der Partner wird nicht geliebt, weil er verlässlich ist oder weil er gleiche Interessen verfolgt, sondern um ’seiner selbst‘ willen.

In dieser Bindungsform offenbart man sich mit seinen innersten Vorgängen und wendet sich den innersten Vorgängen des Partners bestätigend zu. Die Nähe zum anderen ist intim, emotional und leidenschaftlich.

Häufigkeit der drei Bindungsformen

Die drei Beziehungsformen können zusammen vorkommen, aber sie sind keineswegs aneinandergebunden. Manche Partner sind vorwiegend aus partnerschaftlichen Gründen zusammen, andere aus freundschaftlichen oder einer Mischung von beiden.

Doch die Tendenz ist deutlich: Es gibt immer mehr Beziehungen, die entweder allein auf emotional/ leidenschaftlicher Verbundenheit beruhen oder die ohne die emotional/leidenschaftliche Liebe nicht auskommen.

All das ist völlig in Ordnung. Denn was ein Paar unter Liebe versteht und welche Form es seiner Beziehung gibt, ist heute allein Sache des Paares.

Liebe ist individualisiert.

Ganz allgemein lässt sich feststellen – und das ist der Grund, warum ich dieses Thema gewählt habe – dass die emotional/leidenschaftliche Liebe aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung hin zu mehr Individualität gegenüber den anderen Bindungsformen stark an Bedeutung gewonnen hat, sie ist mittlerweile die Nr. 1.

Gründe für die wichtige Stellung der emotional-leidenschaftlichen Liebe

Frau und Mann © by-studio-fotolia

Die wichtige Stellung der emotional/leidenschaftlichen Liebe hängt damit zusammen, dass Individuen in unserer sozialen Umgebung keinen Partner brauchen, um zu überleben. Sie können genügend Freunde haben, bei denen sie sich entfalten können. Sie können sich mit Sexualität versorgen.- Aber sie können nicht alleine lieben.

Um im Innersten gesehen und bestätigt zu werden, braucht es eine exklusive, intime Beziehung, braucht es eine umfassende Zuwendung, wie sie einem Individuum nur von einem anderen Individuum gegeben werden kann. Die emotional/leidenschaftliche Liebe zeigt aufgrund ihrer Aufgabe gegenüber den anderen Bindungsformen einige Merkwürdigkeiten.

Merkwürdigkeiten der emotional/leidenschaftlichen Liebe

Diese sind vor allem:

  • Dass in ihr der Eindruck hervorgerufen werden muss, die Partner würden sich ‚ganz‘ aufeinander beziehen, obwohl sie sich weder in Gänze erfassen können noch je ganz kennenlernen werden.
  • Dass sie von einem Eindruck lebt, der immer wieder durch individuelle Veränderungen gestört und gefährdet wird.
  • Dass sie nur bestehen bleiben kann, wenn die Partner individuelle Veränderungen aufnehmen, weil jeder nur dann in der Beziehung ‚er selbst‘ sein kann, obwohl er ein anderer geworden ist.
  • Dass sie die Partner nötigt, die hinter Störungen liegenden Veränderungen aufzuspüren und diese einander zu offenbaren.
  • Dass es einen sicheren Weg gibt, sie zu beenden: indem die Partner ihr Innerstes aus den Augen verlieren.
  • Dass es keinen sicheren Weg gibt, sie zu erhalten, keine Garantie auf Bestätigung, weil Offenbarung sowohl Zuwendung als auch Ablehnung auslösen kann.
  • Dass sie riskiert werden muss, um weiter bestehen zu können.
  • Die letzte Merkwürdigkeit ist die wesentlichste Bedingung der emotional/leidenschaftlichen Liebe. Um bestehen zu können, muss sie riskiert werden. Dieses Merkmal unterscheidet sie von partnerschaftlicher und freundschaftlicher Liebe, in denen dem Risiko kein eigener Wert zukommt.

Das muss man tun, um emotional/leidenschaftliche Liebe zu erleben

Wer emotional/leidenschaftliche Liebe erleben will und sie auf Dauer erhalten will, dem bleibt nur zu sagen und zu zeigen: „Schau, so bin ich, so fühle und empfinde ich, davon träume ich, davor fürchte ich mich, danach sehne ich mich … liebe mich dafür“. Es scheint fast so, als wäre die neue Liebe im Kern von allen irdischen Aufgaben befreit, außer von der emotional/psychischen Aufgabe, ein Individuum in seinem Selbst zu bestätigen.

Buchempfehlung der Redaktion

Liebe will riskiert werden

In einer komplizierten Welt ist wohl auch die Liebe vielschichtiger, umfassender und damit schwieriger geworden. Die viel besungene „alte“ Liebe wurde von vielen Dichtern als Heilsbringer für das Glück beschrieben.

  • Goethe: „Doch lieben, Götter, welches Glück!“
  • Hesse: „Glück ist Liebe, nichts Anderes. Wer lieben kann, ist glücklich“.

Ganz so einfach ist es wohl nicht. Der Wunsch nach dauerhaften Beziehungen ist geblieben, aber es besteht ein hoher Anspruch an Qualität und ein hoher Stellenwert für das persönliche Glück. Beziehungen sollen emotionales Glück bescheren. Da sie das auf Dauer nicht können, verlieren sie an Wert. Heute wird weniger die Verlässlichkeit gefordert, sondern Lebendigkeit und eine ruhig auch schwankende hohe emotionale Intensität. Liebesbeziehung ist keine Verschmelzung mehr, sondern eine Kette von Begegnungen. Dabei müssen Konflikte entstehen, weil sich Paare ständig wandeln.

Die Frage bei der Lösung dieser Probleme in einer Partnerschaft ist niemals das Wie, sondern die richtige Frage lautet: „Als Wer gehen die Partner mit dem Thema um: als Fremde, als Partner, als Freunde oder als Liebespaar„? Letztlich kann nur der Umgang als Liebespartner zu einer dauerhaften, für beide befriedigenden Lösung eines Problems führen.

Und das muss sich bei jedem Problem wiederholen. Leicht kann das nicht sein. Aber die neue emotional-leidenschaftliche Liebe gibt den Partnern eine große Gestaltungsfreiheit. Man ist nicht mehr gezwungen, zusammen zu wohnen, eigene Kinder zu haben, gemeinsame Interessen zu verfolgen, Sex miteinander zu haben oder gemeinsame Zukunftspläne zu schmieden.

Wichtig ist, von einem Partner mit der Bedeutung versorgt zu werden, ganz man selbst zu sein. Zum Überleben braucht man in unserer sozialen Umgebung nicht zwingend einen Partner. Man kann alleine leben, aber nicht alleine lieben. Da das immer noch ein einzigartiges Gefühl geblieben ist, ermutigt Michael Mary in diesem sehr guten, eher philosophischen Buch dazu, Liebe einfach zu riskieren.

Einfache und praktische Tipps, Krisen in Partnerschaften zu lösen oder Krisen zu bewältigen, findet man in diesem Buch nicht. Liebe will riskiert werden: Warum Paare heute anders lieben und wie sie damit glücklich werdenAber das Buch hilft sehr dabei, tieferes Verständnis für Probleme in der Partnerschaft zu erlangen. Dann kann man mit mehr Ruhe, Gelassenheit und Verständnis für den Partner und sich eine Problemlösung angehen.

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